Die anthropologische Distanz
Auszug (an einigen Stellen sprachlich korrigiert) aus einem kürzlichem Salongespräch im kleinen, aber feinen Entrepreneur-Kreis mit Olaf Schirm von SCIENCEARTTHINKING (SARTT) über Schach, den Menschen, die künstliche Intelligenz, wie und ob wir uns als Kreative behaupten können.
Podiumsgespräch (Auszug)
Gastgeberin: Herr Schirm, Sie haben gesagt, dass viele Menschen um die Jahrtausendwende befürchteten, dass das professionelle Schachspiel dem Untergang geweiht sei, da IBMs Deep Blue 1997 den damaligen Weltmeister Garry Kasparov besiegen konnte. Können Sie uns das näher erläutern?
SARTT: Ja, ich war schon immer mit dem Schachspiel sehr vertraut und habe als Student in München Schachcomputer verkauft, tatsächlich war ich als Verkäufer in einem Jahr am erfolgreichsten Handelsplatz für Schachcomputer in Deutschland tätig. Ich habe in der Folgezeit die Entwicklung weiter beobachtet und hatte immer diverse Schachcomputer privat im Einsatz. Diese schachspielenden Software-„Maschinen“ wurden immer besser und ich begann mich damals zu fragen: Wenn die heranwachsenden künstlichen Intelligenzen im Spiel bereits oder in Kürze die klügsten Menschen übertreffen können, wie geht das weiter und was bleibt dann für uns Schachspieler noch als Sinn des Spielens übrig? Um das zu klären, müssen wir uns ansehen, was in den Folgejahren passiert ist. Maschinen, Software und die zugrundeliegende Maschinenintelligenz wurde zwar besser, aber wir alle wissen: Menschen spielen auch nach dem gerade beschriebenen Ereignis aus dem Jahr 1997 weiterhin Schach, und wir sehen weiterhin anderen Menschen gerne und gebannt ganz allgemein beim Spielen zu.
Gastgeberin: Wie hat sich die Situation in den letzten Jahren verändert, man liest praktisch täglich über weitere Fortschritte der künstlichen Intelligenz und über neue Produkte?
SARTT: Rund um das Jahr 2020 entwickelte sich die bis dato weitgehend schleichende Entwicklung der intelligenten Software mit ungeahnter Geschwindigkeit – oder besser: Beschleunigung – weiter. Jetzt geht es schon längst nicht mehr „nur“ um das Besiegtwerden beim Schachspiel, jetzt, wo KIs besser als die besten Menschen spielen, gewinnen KIs wie AlphaGo auf eine unheimliche, ähnliche kreative Weise wie wir, so geschehen beim Spiel GO in der legendären Partie gegen den Weltmeister Lee Sedol im Jahr 2016.
Gastgeberin: Können Sie uns das, was 2016 geschehen ist, kurz ausführen?
SARTT: Die künstliche Intelligenz AlphaGo von der Firma DeepMind trat gegen den amtierenden Weltmeister Lee Sedol an, er trug den 9.DAN im Spiel GO, den höchsten erreichbaren Grad. Es gibt darüber einen wunderbaren Dokumentarfilm, der zeigt, wie die 5 Partien der künstlichen Intelligenz- Software gegen einen höchst talentierten Menschen abliefen. Überraschend verlor Lee Sedol schon die erste Partie und in der zweiten Partie geschah beim Spielzug 37 das, was 200 Millionen Zuseher zum Aufseufzen brachte: die KI AlphaGo machte einen Spielzug der genial, ungewöhnlich und so kreativ war, dass es einem Dammbruch gleichkam. Lee Sedol gewann nur eine (die vierte) der 5 Partien, AlphaGo wurde Weltmeister und bekam wie zuvor Lee Sedol nun den 9.DAN zugesprochen. Lee Sedol beendete zwei Jahre später seine Karriere.
Gastgeberin: Machte er das, weil er keine Chance gegen die KI mehr sah? Woher kommt Ihrer Meinung nach die Angst, dass eine moderne, kreative KI die menschliche Kreativität obsolet machen wird?
SARTT: Wir sind auf eine solche Situation nicht vorbereitet. Jeder meint, er sei anderen Menschen in bestimmten Situationen und auf eine bestimmte eigene Weise überlegen. Auf jeden Fall fühlen wir uns anderen Lebewesen, trotz ihrer individuellen herausragenden Eigenschaften überlegen. Es ist der Eindruck der Überlegenheit des Menschen, der Spitze der Evolution als Homo sapiens. Aber der Thron, auf dem wir bisher stabil saßen, beginnt zu bröckeln. Unsere maximal vorstellbare dystopische Vision war der Angriff einer außerirdischen Intelligenz, die uns für niederwertig halten könnte und uns vernichtet. Das alles, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass unsere eigenen „Geschöpfe“ uns jemals überragen könnten und das Problem somit von uns selbst heraufbeschworen würde. Die Büchse der Pandora wurde von uns geöffnet. Nur ist noch nicht geklärt, ob die menschliche Kreativität wie Sie fragen, damit obsolet wird. Das ist eine lange und komplexe Überlegung. Ich bringe es mal auf einen einfachen Punkt: es gibt nicht eine endliche Menge von Kreativität, das ist der Denkfehler oder die Irreführung in der Fragestellung. Wenn Kreativität aber nicht endlich ist, dann bleibt genug Platz für diejenige der Menschen, in Koexistenz und Kooperation zur Maschinenkreativität.
Gastgeberin: Sie deuten an, diese Art von Angst vor der künstlichen Intelligenz erscheint nicht begründet, vielleicht sogar irrational. Andererseits ist die KI als Gegner beim gemeinsamen Spiel wohl deprimierend stark. Wie löst man diesen Widerspruch?
SARTT: Wir sprechen hier von der Kreativität, nicht von anderen Bereichen, die durch die KI betroffen sind. Nehmen wir nochmal die Kategorie in der KI zweifellos die Menschen für alle Zeit übertroffen hat, das Schachspiel. Weltweite Wettbewerbe, Clubs und Austragungen beweisen: Wir genießen und konsumieren immer noch die Art und Weise, wie Menschen Schach spielen. Tatsächlich boomt das Schachspiel. Ist das nicht merkwürdig im eigentlichen Sinne von „merkwürdig“? Jetzt, da die Menschen seit Jahrzehnten nicht mehr die besten Schachspieler sind, schenken wir dem Spiel mehr Aufmerksamkeit! Wir genießen es, Menschen beim Schachspiel gegen Menschen zuzusehen, vielleicht sogar mehr als zuvor. Wenn überhaupt, hat KI uns zu besseren Spielern gemacht oder uns zum aufmerksameren Zusehen bewogen. Am Beispiel von dem vorhin genannten GO kann ich noch eine interessante Ergänzung zur Geschichte liefern: der Nachfolger des Computerprogramms AlphaGo wurde kürzlich geschlagen, indem ein Mensch eine andere KI angewiesen hat, bei AlphaGo eine Schwachstelle im Spiel zu finden, was auch gelang. Ein Trick und die Schwachstelle wird – nun entdeckt – sicher behoben, aber man sieht, das Spiel geht weiter und bleibt spannend.
Gastgeberin: Was könnte eine Erklärung dafür sein, dass wir trotz der Überlegenheit der künstliche Intelligenz nicht dem Beispiel von Lee Sedol folgen und aufgeben?
SARTT: Bei Lee Sedol hat es wohl mit seiner Profession und Passion zu tun und ist ein spezieller Fall, den wir aber nicht aus dem Auge verlieren sollten, denn genau da lauert die Gefahr für etliche Berufsbilder und berufliche Existenzen. Ich versuche aber, beim eigentlichen Thema zu bleiben und jetzt nicht in andere Gebiete abzuschweifen. Bleiben wir also beim Spiel, bei der Kreativität an sich. Meine Erklärung für unsere weitere Faszination dafür und unser nicht nachlassendes Interesse dafür wäre, dass wir Unvollkommenheit mögen. KI mag noch nicht fehlerfrei sein, aber ein Wesenszug von ihr ist die ständige Optimierung, die sie zu einer Art vermeintlichen Makellosigkeit, einem Strebertum treibt – sie wird uns fremd, zu perfekt, zu künstlich. Sie bewegt sich mehr und mehr spürbar außerhalb unserer intellektuellen Reichweite. Sie gewinnt und scheitert in einer parallelen Koexistenz zu unserem Scheitern als immer fehlerhafte Menschen. Aber wir mögen es, wenn fehlerhafte Menschen – wohlgemerkt: Menschen – Dinge tun: Die Schachmeister Kramnik und Kasparov machen trotz ihrer Brillanz immer noch Fehler, spannend ist ihre legendäre Partie aus dem Jahr 2000 gegeneinander, wie ein Krimi für die Fachwelt. Auf Dauer sehen wir lieber Menschen mit ihren Fehlern und Schwächen gegeneinander spielen als gegen die künstliche Intelligenz AlphaGo oder sogar künstliche Intelligenzen gegeneinander, die in Sekundenschnelle die Partien untereinander auf unmenschliche Art entscheiden. Wir mögen es, Menschen je nach ihrer Tagesform gut oder nicht so gut spielen zu sehen, zu scheitern, zu verzagen, zuzusehen wie sie sich erholen, kämpfen und schließlich einen hart erkämpften Sieg erringen. Es ist für uns attraktiv, es erzeugt Spannung und Erwartung auf das, was als nächstes passieren wird. Warum betrachten wir Sportereignisse zwischen Menschen, die sich darin messen, wo doch Maschinen und Tiere die jeweiligen Sportarten besser beherrschen oder beherrschen werden? Warum beobachten wir Pferdesport, warum Rennsport mit Fahrzeugen, die von Menschen bewegt werden? Es ist die Bewunderung der Leistung eines Mitmenschen im Vergleich zur eigenen und das bringt mich näher zum Kernpunkt meiner Aussage.
Gastgeberin: Sie meinen, wir wollen Kreativität in ihrer Fehlbarkeit genießen? Eine Form von Voyeurismus?
SARTT: Angesichts der bis jetzt vorliegenden Ergebnisse für kreatives Verhalten der Maschinenintelligenz werfe ich zumindest die Frage auf, ob nicht die bizarre Kreativität der KI einen eigenen Charme besitzt. Ich finde die Brüche und die Halluzinationen in der Kreativität von Maschinenintelligenzen interessant, geben sie doch damit einen ungewollten Einblick in ihre Fehlerhaftigkeit. Das kann man genießen, wie beim Menschen. Der Gedanke, dass es das Ende der menschlichen Kreativität sein wird, sobald die KI besser schreiben kann als Shakespeare und Tolstoi, besser komponieren kann als Mozart und Beethoven oder besser malen kann als Picasso und da Vinci ist angebracht aber zu einseitig. Grob betrachtet ist die Vorstellung einer allumfassenden kreativen Intelligenz technisch gesehen kaum zu widerlegen. Wenn man das erkennt, erhält man einen unausweichlichen Stich der Angst vor einem abstrakten oder sogar konkreten anstehenden Verlust, einem Verlust der plötzlich unausweichlich erscheint. Aber, und das ist meine Erkenntnis nach Jahren der Beschäftigung in den Computerwissenschaften, der Robotik und des Maschinenlernens: Kreativität kann erfolgreich nachgeahmt werden, aber sie kann niemals in ihrem ganzen Spektrum ersetzt werden. Dasselbe gilt für alle Bereiche der Kunst. Es gibt immer den Platz für die Hoffnung, es gibt immer den Platz für die Überraschung, das Genie oder herausragende Talent.
Gastgeberin: Überträgt sich das dann zum Beispiel auch auf das Schreiben? ChatGPT und andere Large Language Modelle sollen künftig Werbetexter, Schriftsteller und Journalisten ersetzen. Bildgebende KIs wie Midjourney, Dall-E und Stable Diffusion greifen stark in die darstellende Kunst ein, ist dies der Beginn des Endes der kreativen Erzeugung von Inhalten?
SARTT: Ich würde sagen, es verhält sich genau auf die gleiche Weise wie beim vorhin genannten Spiel, zumindest für das eben zitierte Schreiben und Malen, dessen Ziel es ist, uns zu unterhalten, uns zu überraschen und unsere Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken. Uns gefällt das „Menschgemachte“. Ein persönlicher Essay, geschrieben von einem „Mitmenschen“, bezugnehmend auf tatsächliche menschliche Erfahrungen, menschliche Emotionen, menschliche Antriebe, Träume und Hoffnungen zieht uns mehr an als fiktive Erfahrungen einer Maschine. Unsere Spiegelneuronen sind darauf trainiert etwas von Mitmenschen mitzufühlen und wir „spüren“ das.
Gastgeberin: Sie haben jüngst in einer Veröffentlichung eine interessante Lösung für das Paradoxon der KI-bedingten Obsoleszenz der menschlichen Kreativität vorgeschlagen. Können Sie das näher erläutern?
SARTT: Ja, das war bei der Eröffnung meiner Solo-Ausstellung zur Maschinen-Emotion in Berlin. Die Lösung ist nach vielem Grübeln über alle möglichen Faktoren wie so oft in der Quintessenz ganz einfach: Menschen mögen Menschen. Es ist nicht die menschliche Unvollkommenheit, die unsere Aufmerksamkeit erregt, sondern es sind einfach die Menschen.
Gastgeberin: Warum mögen wir es viel mehr, wenn Menschen Dinge gut machen, als wenn KIs diese Dinge besser machen?
SARTT: Die Antwort liegt möglicherweise in der feinen Balance zwischen Ähnlichkeiten und Kontrasten, die jedes Mitglied der menschlichen Familie, unserer Lebensform teilt. Wenn wir zum Beispiel Kasparow beim Schachspielen zusehen, wissen wir unbewusst, dass er als Mensch über Fähigkeiten verfügt, die unseren ähnlich sind und doch bricht er auf wunderschöne Weise unsere Vorstellungen davon, was ein Mensch tun kann. Das passiert nicht mit AlphaGo oder anderen künstlichen Intelligenzen, die eine andere Art von Bewunderung, eher die Schätzung ihrer Fähigkeiten in uns auslöst.
Gastgeberin: Was meinen Sie damit genau? Meinen Sie, der Mensch möchte sich nicht mit der künstlichen Intelligenz messen?
SARTT: Wir schauen uns gerne die Performance von Weltklasse-Athleten an, die unglaubliche Leistungen vollbringen, Leistungen, die wir kaum von Perfektion unterscheiden können – und wir mögen es. Ich selbst sehe mir Schachpartien von Kasparow an und wünschte mir, ich würde seine Gedankengänge hinter den Zügen vollkommen verstehen. Wenn ich dasselbe bei AlphaGo mache, erzeugt es kein Gefühl der Sympathie, kein Mitgefühl, nur technisches Verständnis. Was mag ich also mehr? Natürlich das Messen der Menschen gegeneinander oder in zweiter Linie gegen die Software. Wir müssen uns zwar mit der Software messen, aber Gefallen finden wir nicht daran. Ich nenne das ANTHROPOLOGISCHE DISTANZ. Wir haben eine geringe anthropologische Distanz zu anderen Menschen, zu unserer Spezies, ob wir sie im Einzelnen mögen oder nicht. Wir haben eine größere anthropologische Distanz zu Primaten, zu anderen Tieren und wir haben eine sehr große anthropologische Distanz zur unbelebten Natur, zu Maschinen oder Software. Gefährlich ist, wenn die Software Menschen imitiert und uns damit bewusst täuscht.
Gastgeberin: Die anthropologische Distanz ist demnach ein Gradmesser des Wettbewerbs von Menschen untereinander und zwischen Menschen und KIs?
SARTT: Die anthropologische Distanz zwischen Menschen und KIs bricht den Zauber der vermeindlich großartigen Fähigkeit der künstlichen Intelligenzen. Die Angst um die menschliche Kreativität ist in mehrerer Hinsicht unbegründet. Zunächst einmal, weil wir nicht von derselben Liga sprechen, wir können auch nicht so weit springen wie ein Grashüpfer oder soviel tragen wie ein Käfer, so schnell laufen wie ein Gepard und so weiter. In unserer Liga können wir uns messen und müssen das bei vielen Sportarten im Millisekunden- oder Millimeterbereich machen, um einen Unterschied festzustellen. Sobald wir die Ligagrenzen verwischen, beim Boxen z.B. zwischen Leicht-und Schwergewicht, beim Sport zwischen der Amateur- und der Profiliga, dann wird es ungerecht und der Vergleich der Leistungen hinkt. Des Weiteren mögen wir nicht wirklich Perfektion um der Perfektion willen. Wir schätzen und genießen die Perfektion, die Leistung, die Kreationen unserer Mitmenschen auch – oder sogar da – sie unvollkommen sind, selbst wenn sie perfekt erscheinen.
Gastgeberin: Glauben Sie also als Fazit nicht daran, dass KI die Kreativität der Menschen ersetzen und unnütz machen wird?
SARTT: Unter Berücksichtigung der von mir beschriebenen anthropologischen Distanz kann die KI nicht mit der Kreativität der Menschen konkurrieren, da sie nicht in derselben Liga spielt. Unter dieser Betrachtungsweise müssen wir uns also keine Sorgen machen. Die Frage der Nützlichkeit ist eine andere. Maschinen werden eingesetzt um Produktionsabschnitte effizienter auszuführen, schneller, genauer, kostengünstiger und vieles mehr. Das gelingt nicht immer zum Vorteil von Menschen. Hardware, Automaten, Roboter sind klobig, irgendwie beherrschbar, aber Software dringt wie eine hochviskose Flüssigkeit in alle Nischen unserer Arbeitswelt ein und setzt sich dort fest. Wie Bauschaum dehnt sie sich dort aus und verdrängt von Menschen besetzte Prozesse. Ich würde den Vorgang nicht als Ersetzen, sondern als Verdrängung betrachten, unabhängig von der Beurteilung der Güte. An diesem Punkt würde ich mir als Mensch und Gesellschaft Sorgen machen, aber ich denke das ist ein weiteres abendfüllendes Thema.
Gastgeberin: Herr Schirm, ich hoffe, wir können uns demnächst darüber wieder hier unterhalten, vielen Dank für Ihr Kommen und nun öffne ich unser Gespräch für Fragen der anwesenden Gäste.