Nicht tätowieren

Die Füße fanden irgendwie den Boden und meldeten sich als die meinigen an.

Morgens dauert es immer ein Weilchen körperlich in mir anzukommen, stets jedoch gleichzeitig mit allen Plänen und Vorhaben für den Tag. Und dies ist ein ganz besonderer Tag: ich möchte mich heute nicht tätowieren lassen.

Lange habe ich mit dieser Entscheidung gehadert, habe Vor-und Nachteile abgewogen, mich in die Einsamkeit zurückgezogen und in Menschenmassen gewogen. Das Fazit ist: ich werde es heute machen. Wie kam es zu dem Entschluss? Eigentlich ganz von selbst, wie vieles in mir, weil da ständig etwas im Hintergrund rattert. Knoten knüpfen und lösen sich.

Im Fitnessstudio angekommen spiele ich beim Hinuntergehen der Treppe zur Männerumkleide wieder „TTP“, ein Countdownspiel, welches ich erfunden habe und nur wenige Sekunden dauert. „TTP“ bedeutet „Time to Penis“, die Zeit, die es dauert bis ich nach dem Öffnen der Umkleide-Eingangstür den ersten schwingenden Penis sehe. Die längste Zeit gewinnt, nur bin ich noch nie über 3-4 Sekunden hinausgekommen und man muss wissen, ich gehe nicht zu den typischen (vollen) Zeiten ins Studio.

Da das Spiel immer gleich vorüber ist, bleibt Zeit sich Varianten zu überlegen, so kam ich auf das Auffinden von Tatoos. Aber das geht ja noch schneller…. Besonders in Fitnessstudios ist es heute angesagt mit Tatoo(s) zu erscheinen, womöglich bekommen Tätowierte sogar Rabatt. Es gibt zudem besonders für diese Körper angepasste Tatoo-Kleidung, die so geschnitten ist, dass man immer mit zumindest Teilen des getragenen Tatoos als Gegenüber konfrontiert wird. Man ist also in dieser Zeit anscheinend besonders cool, wenn die Gehirnwindungen oder die Seiten des eigenen Notizbuches außen aufgemalt sind.

Da fallen blanke Körper wie meiner auf und aus der Rolle. Kein Tatoo, nicht viele sichtbare Narben, kaum Sommersprossen oder Leberflecke. Nur Haare und Flaum. Erntete man früher bewusst desinteressierte Blicke wegen einem definitionsfreien, zu schmächtigen oder zu dicklichen Körper, dann heute wegen des fehlenden Totenkopfes, unleserlichen Spruches oder des fehlenden rankenden Tribals. Sind Tribals kulturelle Aneignung und müssen diese oder ersatzweise deren Träger nicht schnellstens entfernt werden?

Dass dieses Dilemma einen neuen, großen und einträglichen Markt erzeugt, ist nur zu verständlich. Also schießen überall moderne Dienstleistungsshops aus dem Boden, die nicht tätowieren. Wie gesagt, ich habe mich entschlossen und besuche jetzt einen.

Zweifel quälen mich auf dem Weg. Vielleicht sollte ich mich doch tätowieren lassen, dann gehöre ich dazu, jeder klopft mir auf die Schulter im Studio und wir reden über unsere Tatoos und Vorhaben für weitere Tatoos. Ich könnte Tatoo Kleidung tragen und mich am Essenstisch mit Kollegen unauffällig mit hervorblitzenden Tatoos unter Hemdkragen und Manschetten an die Spitze des Rudels setzen.

Aber wer mich kennt weiß, letztlich entscheide ich mich nach meinem eigenen Gusto und deswegen gehe ich weiter und stehe nun vor dem kleinen Shop mit übervollem Schaufenster. Hinter dem Glas sind zahlreiche Tatoo-Motive und Fotos von nackten, untätowierten Körperteilen glücklicher Kunden.

Das macht Lust auf mehr und ich betrete den Laden für Nicht-Tätowiererei mit Namen „BlankCanvas“.

Eine – soweit ich sehen kann – komplett untätowierte Frau begrüßt mich und kommt hinter der Theke hervor, knapp bekleidet mit viel Körperschmuck, geschminkt, aber ansonsten unbemalt. Anscheinend keine Hardlinerin, denke ich, wenigstens konsequent die Business Idee vertretend indem sie das darstellt, was sie anbietet.

Nach einem kurzen „Hallo“ fragt Sie mich „Möchten Sie sich informieren? Sind Sie schon einmal nicht tätowiert worden und kennen den Ablauf?“ Ich verneinte letzteres und sie bot sich an, es mir zu erklären: „Also das Wichtigste ist, dass Sie sich für einen der beiden Wege entscheiden:

Erstens: wollen Sie ein extrem hässliches Tatoo oder ein Motiv welches Sie ganz und gar nicht mögen, und lassen sich dann nicht tätowieren? Suchen Sie sich eines aus unseren Katalogen aus oder wir designen eines extra für Sie. Dann können Sie froh sein es nicht zu haben.

oder Zweitens: Sie suchen sich ein wunderbares Motiv aus oder lassen eines gemäß Ihren Vorgaben von uns entwerfen. Nach Abstimmung und Abnahme wird es dann von uns fachmännisch nicht tätowiert. Wir haben erstklassiges Personal mit besten Referenzen.

Insgeheim zweifle ich an den erstklassigen Referenzen, denn es ist ja noch ein sehr junger Markt und kein Shop existiert länger als ein Jahr, maximal. Aber ich hatte gelesen, die jetzigen Nicht-Tätowierer seien meist umgeschulte Tätowierer, die nach Jahren sinnloser Arbeit eine neue Erfüllung suchen. Das frage ich die untätowierte Frau vom Empfang, sie outet sich nun als Chefin und sagt, sie rekrutiert ihr Personal genau dort, wo die Burn Out Tätowierer landen, z.B. bei den anonymen Tätowierern, und baut sie persönlich wieder auf. Der Vorgang sei wie bei der Hinführung zum Tätowieren und natürlich wird nicht am Menschen, sondern mit Schweinehaut geübt, um sich dem perfekten Nicht-Tätowieren anzunähern.

Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit, ich hätte lieber ein Tatoo, welches ich exakt auf meine Geschichte hin entwickeln lasse, bis es mir so gut gefällt, dass ich es nicht tätowieren lasse. Dann kann ich immer, wenn ich auf das nicht tätowierte Tatoo sehe, mich an diesen Moment erinnern und mich daran erfreuen, es nicht auf meinem Körper zu haben.

Bei dem Gedanken daran steigt mir das Wasser in die Augen.

Ich gebe also ein Motiv in Auftrag und wähle den Urknall, ein für mich sehr bedeutender Moment für mein Leben. Die Chefin meint sie mache sich gleich an die Arbeit und ich soll morgen wiederkommen und mir den Entwurf ansehen. Sie gibt mir noch einen Flyer mit, dort sind weitere glückliche nichttätowierte Kunden zu sehen und im Kleingedruckten lese ich, dass man von einer Nicht-Tätowierung nach Beginn nicht zurücktreten kann, das versteht sich.

Am nächsten Tag bin ich also wieder bei „BlankCanvas“ und die Chefin legt mir zwei Entwürfe vor: ein schwarzer Kreis mit einem schwarzen Quadrat in fast gleicher Größe, sodass die Ecken des Quadrates aus dem Kreis hervorstechen. Der zweite Entwurf ist dasselbe Muster, aber nur die schwarze Umrisslinie. „Das ist der Bezug auf das Unmöglich-Mögliche, auf die Quadratur des Kreises. Ich nenne es PI-SQUARE.“ sagt sie und ich bin begeistert.

Nur ist es mir zu plakativ, ich frage ob ich den zweiten Entwurf auch ohne schwarze Umrisslinien haben könnte und sie findet den Vorschlag gut. Die Änderung ist schnell gemacht und sie fragt mich zur Größenanpassung und Preisberechnung nach der Körperstelle, die ich mir für das Tatoo ausgesucht habe. Ich wähle den gut sichtbaren Bereich links am Hals.

Ich wusste es wird nicht billig, aber der Preis lässt mich mit selbigem Hals kräftig schlucken. Na ja, Qualität hat seinen Preis und es ist ja auch ein Haufen Arbeit. Ich leiste meine Unterschrift auf dem Auftrag mit den üblichen Aufklärungen über Nachbehandlung und Risiken. Dann bringt sie mich ins Hinterzimmer, wo schon eine wohl umgeschulte, da über und über bebilderte Tätowiererin auf mich wartet.

Das Motiv am Hals anzupassen war nicht einfach, es ist ja nun farblos und hat keine Umrisslinien mehr. Das erforderte viel Geschick und ich bin erstaunt wie professionell und geduldig die Nicht-Tätowiererin arbeitet und auf meine Millimeter-Verschiebungswünsche eingeht. Dann geht es los und der unangenehme und langwierige Teil beginnt, es ist aber nicht so schlimm wie beim Tätowieren, denn es wird ohne Tinte und nicht so tief tätowiert.

Gefühlte Stunden später verlasse ich mit einem großen Mullpflaster am Hals den Shop, überglücklich es durchstanden zu haben, überglücklich nun auch nicht tätowiert zu sein und bin gespannt das Ergebnis morgen nach Entfernung des Pflasters zu genießen.



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